Gesetz
vom 19. Dezember 1918,
womit einige Bestimmungen des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 1918, St.G.Bl. Nr. 1, abgeändert oder ergänzt werden

(St.G.Bl. 139/1918)

Die Provisorische Nationalversammlung des Staates Deutschösterreich hat beschlossen:

§ 1. Die von der Provisorischen Nationalversammlung gewählten drei Präsidenten sind gleichberechtigt. Sie führen den Vorsitz in der Nationalversammlung (Präsident im Hause), leiten die Verhandlungen des Staatsrates (Präsident im Rate) und stehen der Staatsregierung vor (Präsident im Kabinett).

§ 2. Die Präsidenten wechseln in ihrer Dienstverwendung in vereinbarter Reihenfolge von Woche zu Woche ab. Der eine Präsident ist jeweils mit der Präsidentschaft im Hause, der andere mit der Präsidentschaft im Rate, der dritte mit der Präsidentschaft im Kabinett betraut. Im Falle der Verhinderung eines Präsidenten vertreten ihn in vereinbarter Reihenfolge die beiden anderen Präsidenten.

§ 3. (1) Dem Staatsrate unterstehen unmittelbar die Staatskanzlei und das Staatssiegelamt.

(2) Der Leiter der Staatskanzlei führt den Titel Staatskanzler, der Leiter des Staatssiegelamtes den Titel Staatsnotar. Beide sind nach Maßgabe des § 9 des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 1918, St.G.Bl. Nr. 1, verantwortlich.

(3) Die Ausfertigungen des Staatsrates werden vom Präsidenten gefertigt. Sie bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Staatskanzlers oder eines Staatssekretärs. Ihre Beurkundung erfolgt durch den Staatsnotar.

(4) § 6, Absatz 2, des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, St.G.Bl. Nr. 1, wird aufgehoben.

§ 4. (1) Vorschläge für Beschlüsse der Nationalversammlung gelangen an diese als Vorlagen des Staatsrates. Das den Mitgliedern der Nationalversammlung zustehende Vorschlagsrecht bleibt dadurch unberührt.

(2) Der Staatsrat beurkundet die Beschlüsse der Nationalversammlung gefaßten Beschluß zu vollziehen, so kann er ihn vor der Beurkundung binnen zehn Tagen unter Angabe der Gründe der Nationalversammlung; sein Beurkundungsbeschluß ist unwiderruflich.

(3) Hat der Staatsrat Bedenken, einen von der Nationalversammlung gefaßten Beschluß zu vollziehen, so kann er ihn vor der Beurkundung binnen zehn Tagen unter Angabe der Gründe der Nationalversammlung mit dem Antrag auf Abänderung oder Aufhebung vorlegen.

(4) Ein solcher Beschluß des Staatsrates bedarf zu seiner Gültigkeit der Anwesenheit von mindestens 15 Mitgliedern und einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen.

(5) Beharrt die Nationalversammlung auf ihrem ursprünglichen Beschluß, so ist dieser vom Staatsrat unverzüglich zu beurkunden.

(6) Die vom Staatsrat beurkundeten Beschlüsse der Nationalversammlung sind von der Staatskanzlei kundzumachen.

(7) § 7 des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 1918, St.G.Bl. Nr. 1, wird aufgehoben.

§ 5. (1) Staatsverträge bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung durch den Staatsrat.

(2) Nur Handelsverträge und solche Staatsverträge, die eine Veränderung des Staatsgebietes zur Folge haben, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung durch die Provisorische Nationalversammlung.

(3) Die Ratifikation der Staatsverträge erfolgt durch den Präsidenten im Kabinett unter Gegenzeichnung des Staatskanzlers, des Staatssekretärs für Äußeres und des dem Gegenstande des Vertrages nach zuständigen Staatssekretärs.

§ 6. (1) Die drei Präsidenten bilden unter dem Vorsitz des jeweiligen Präsidenten im Kabinett das Staatsratsdirektorium.

(2) Seine Beschlüsse bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Staatskanzlers. Sie werden vom Staatsnotar beurkundet.

(3) § 5, Absatz 2, des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 1918, St.G.Bl. Nr. 1, wird aufgehoben.

§ 7. Anordnungen, die in den Wirkungskreis des Staatsrates fallen, sind, wenn dieser nicht tagt, im Falle besonderer Dringlichkeit vom Staatsratsdirektorium zu treffen. Die nachträgliche Genehmigung des Staatsrates ist binnen drei Tagen einzuholen.

§ 8. Dem Staatsratsdirektorium obliegt die Leitung und Verwendung der Wehrmacht.

§ 9. (1) Das Staatsratsdirektorium ernennt die Beamten von der VI. Rangklasse - diese eingeschlossen - aufwärts.

(2) Die Beamten und Bediensteten bis zur VII. rangklasse - diese eingeschlossen - werden von den Staatssekretären ernannt

(3) Das den Staatssekretären zustehende Ernennungsrecht wird für den Bereich der Staatskanzlei vom Staatskanzler und für jenen des Staatssiegelamtes vom Staatsnotar geübt.

(4) Alle Ernennungen haben im Rahmen der von den zuständigen amtlichen Stellen erstatteten Besetzungsvorschläge zu erfolgen.

(5) Die Bestimmungen des Grundgesetzes vom 27. November 1918 über die richterliche Gewalt, St.G.Bl. Nr. 38, betreffend die Ernennungen von Richtern, bleiben unberührt.

§ 10. (1) Das Staatsratsdirektorium ist ermächtigt, mit den Regierungen der übrigen auf dem Gebiete der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie begründeten Nationalstaaten Staatsverträge zur einstweiligen Regelung der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen zu schließen.

(2) Die Ratifikation dieser Staatsverträge erfolgt nach § 5, Absatz 3.

§ 11. (1) Der Staatskanzler hat auf das einheitliche Zusammenarbeiten aller Staatsämter und auf die Wahrung der allen Verwaltungszweigen gemeinsamen Interessen hinzuwirken.

(2) Er führt in Verhinderung der Präsidenten den Vorsitz im Kabinett.

(3) § 15 des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 1918, St.G.Bl. Nr. 1, wird aufgehoben.

§ 12. (1) Die Staatskanzlei besorgt alle mit dem Dienste des Staatsrates zusammenhängenden Amtsgeschäfte. Ihr obliegt die Vorbereitung der verfassungsrechtlichen Vorlagen des Staatsrates.

(2) Zur Staatskanzlei ressortieren in administrativer Hinsicht die obersten Gerichte öffentlichen Rechtes.

§ 13. Das Staatssiegelamt unterstützt den Staatsnotar in seiner Mitwirkung bei den ihm obliegenden Beurkundungen. Überdies verwahrt es die Siegel, Embleme und Kleinodien des Staates.

§ 14. (1) Dieses Gesetz tritt am Tage seiner Kundmachung in Wirksamkeit.

(2) Mit dem Vollzuge wird der Staatsrat betraut.
 

Auf Grund des § 7 des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt wird beurkundet, daß der obenstehende Beschluß von der Provisorischen Nationalversammlung am 30. Oktober 1918 gefaßt worden ist.

Der Präsident
Seitz

Der Staatskanzler
Renner

Der Staatsnotar
Sylvester
 


Quellen: Fischer / Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte, Geyer-Edition 1970
© 9. Dezember  2001
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