"Provisorische Verfassung"

Gesetz
vom 14. März 1919
über die Volksvertretung

Die konstituierende Nationalversammlung hat beschlossen:

Artikel 1. (1) Die vom Volke Deutschösterreichs gewählte konstituierende Nationalversammlung übernimmt als höchstes Organ des Volkes die oberste Gewalt der Republik. Sie allein hat das Recht, Krieg zu erklären und Friedensverträge zu genehmigen. Alle öffentlichen Gewalten beruhen auf den von ihr beschlossenen Gesetzen.

(2) In der von der konstituierenden Nationalversammlung zu beschließenden endgültigen Verfassung sind Verfassungsänderungen der Volksabstimmung zu unterwerfen (Verfassungsreferendum) und die Bedingungen sowie das Verfahren für diese Volksabstimmung näher zu regeln.

(3) Die provisorische Verfassung der Republik Deutschösterreich bleibt, soweit sie nicht durch die folgenden Bestimmungen abgeändert wird, in Geltung. Die konstituierende Nationalversammlung tritt an Stelle der provisorischen.

in Absatz 3 ist als "provisorische Verfassung" gemeint: der Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918

Artikel 2. (1) Die Sitzungsperiode der konstituierenden Nationalversammlung fällt mit ihrer Wahlperiode (Artikel I. des Gesetzes vom 18. Dezember 1918 über die Einberufung der konstituierenden Nationalversammlung, St.G.Bl. Nr. 114) zusammen.

(2) Eine Vertagung der Nationalversammlung kann nur durch Beschluß des Hauses erfolgen Das Haus ist vor Ablauf der Vertagungszeit vom Präsidenten wieder zu berufen, wenn es mindestens fünfzig Mitglieder schriftlich verlangen.

(3) Tag und Stunde der Sitzungen des Hauses werden, sofern das Haus nicht anders beschließt, vom Präsidenten festgesetzt.

Durch Gesetze vom 20. Juli 1920, St.G.Bl. Nr. 317, über die Wahl und Einberufung der Nationalversammlung, und, St.G.Bl. Nr. 316, über die Wahlordnung für die Nationalversammlung wurde die Wahl für die 2. Nationalversammlung Österreichs, die durch das Auseinanderbrechen der, die Staatsregierung bildende Koalition erforderlich wurde, auf den 17. Oktober 1920 festgesetzt. Mit deren erstem Zusammentritt wurde aus der Nationalversammlung der erste, durch das Bundes-Verfassungsgesetz geschaffene Nationalrat; das B-VG trat zu diesem Zeitpunkt in Kraft.

Artikel 3. (1) Das Haus wählt aus seiner Mitte auf die Dauer der Wahlperiode den Präsidenten, den zweiten Präsidenten und den dritten Präsidenten.

(2) Der Präsident führt nach Maßgabe der Geschäftsordnung den Vorsitz im Hause. Er wird darin sowie bei der Führung der ihm sonst gesetzlich zustehenden Geschäfte im Falle seiner Verhinderung vom zweiten Präsidenten und wenn auch dieser verhindert ist, vom dritten Präsidenten vertreten.

Artikel 4. (1) Gesetzesvorschläge gelangen an das Haus entweder als Vorlagen der Staatsregierung oder als Anträge der Mitglieder des Hauses.

(2) Die Gesetzesbeschlüsse der Nationalversammlung erlangen Gesetzeskraft dadurch, daß sie vom Präsidenten durch seine Unterschrift beurkundet, vom Staatskanzler und dem mit der Durchführung betrauten Staatssekretär gegengezeichnet und vom Staatskanzler im Staatsgesetzblatt kundgemacht werden.

Artikel 5. (1) Hat die Staatsregierung Bedenken, einen von der Nationalversammlung gefaßten Beschluß zu vollziehen, so kann sie gegen ihn vor der Kundmachung binnen 14 Tagen unter Angabe der Gründe bei der Nationalversammlung Vorstellung erheben.

(2) Beharrt die Nationalversammlung auf ihrem ursprünglichen Beschlusse, so ist dieser unverzüglich kundzumachen.

Artikel 6. (1) Die Mitglieder der Nationalversammlung können wegen der in Ausübung ihres Berufes geschehenen Abstimmungen niemals, wegen der in diesem Berufe gemachten Äußerungen nur vor dem Hause verantwortlich gemacht werden.

(2) Kein Mitglied der Nationalversammlung darf während der Dauer der Wahlperiode wegen einer strafbaren Handlung - den Fall der Ergreifung auf frischer Tat ausgenommen - ohne Zustimmung des Hauses verhaftet oder behördlich verfolgt werden.

(3) Selbst in dem Falle der Ergreifung auf frischer Tat hat die Behörde dem Präsidenten des Hauses sogleich die geschehene Verhaftung bekanntzugeben.

(4) Wenn es das Haus verlangt, muß der Verhaft aufgehoben oder die Verfolgung für die ganze Sitzungsperiode aufgeschoben werden.

(5) Nach Beendigung der Wahlperiode gelten die in diesem Artikel der Nationalversammlung und ihren Mitgliedern eingeräumten Rechte sinngemäß für den Hauptausschuß und seine Mitglieder.

Artikel  7. Die der Nationalversammlung angehörenden öffentlichen Angestellten und Funktionäre bedürfen zur Ausübung ihres Mandates keines Urlaubes.

Artikel 8. Die Mitglieder der Staatsregierung sowie die von ihnen entsendeten Vertreter sind berechtigt, an allen Beratungen der Nationalversammlung und der Ausschüsse teilzunehmen und die Vorlagen der Staatsregierung zu vertreten. Sie müssen auf ihr Verlangen jedesmal gehört werden. Die Nationalversammlung kann die Anwesenheit der Mitglieder der Staatsregierung verlangen.

Artikel  9. Die Nationalversammlung ist befugt, die Geschäftsführung der Staatsregierung selbst oder durch den Hauptausschuß zu überprüfen, deren Mitglieder über alle Gegenstände der Vollziehung zu befragen und alle einschlägigen Auskünfte zu verlangen, sowie ihren Wünschen über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt in Entschließungen Ausdruck zu geben.

Artikel 10. (1) Zur Regelung der Arbeiten des Hauses, zur ständigen Verbindung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung sowie zur Mitwirkung an der Bestellung der Staatsregierung (Artikel 2 des Gesetzes über die Staatsregierung) wählt das Haus aus seiner Mitte einen Hauptausschuß.

(2) Der Hauptausschuß besteht aus dem Präsidenten der Nationalversammlung, der den Vorsitz führt, aus dem zweiten und dritten Präsidenten, die ihn im Vorsitze vertreten, und aus elf nur auf Grund der Verhältniswahl gewählten Mitglieder.

(3) Die Einberufung des Hauptausschusses obliegt dem Präsidenten. Sie hat jedenfalls zu erfolgen, wenn sie fünf Mitglieder unter Angabe des Verhandlungsgegenstandes verlangen.

(4) Die Mitgliedschaft des Hauptausschusses ist unvereinbar mit der Stellung des Staatskanzlers, eines Staatssekretärs oder eines Unterstaatssekretärs.

Artikel 11. (1) Der Hauptausschuß ist ständig und bleibt im Amte, bis die neugewählte Nationalversammlung einen neuen Hauptausschuß gewählt hat. Im Falle des Rücktrittes des ganzen Ausschusses oder einzelner seiner Mitglieder ist unverzüglich eine Nachwahl einzuleiten.

(2) Zu einem gültigen Beschluß des Hauptausschusses ist die Anwesenheit der Mehrheit der gewählten Mitglieder und die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich.

(3) Im Falle der Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden.

(4) An den Sitzungen des Hauptausschusses nehmen Mitglieder der Staatsregierung nur über Einladung durch den Vorsitzenden teil. Der Hauptausschuß kann von ihnen alle Aufklärungen und Auskünfte verlangen. Die Beratungen des Hauptausschusses sind vertraulich.

Artikel 12. Die Gesetzgebung über alle Gegenstände, die nach der bestehenden Verfassung der Landesgesetzgebung unterliegen, wird von den Landesversammlungen der einzelnen Länder nach den jeweils geltenden Landesordnungen und den durch Landesgesetze eingeführten Geschäftsordnungen ausgeübt.

Artikel 13. Die Landesregierungen sind verpflichtet, alle Gesetzesbeschlüsse der Landesversammlungen vor ihrer Kundmachung der Staatsregierung mitzuteilen.

Artikel 14. (1) Hat die Staatsregierung gegen einen solchen Beschluß der Landesversammlung Bedenken, so kann sie gegen ihn binnen 14 Tagen nach Einlangen der Mitteilung bei der Landesversammlung im Wege der Landesregierung Vorstellung erheben.

(2) Vor Ablauf dieser Frist kann das Landesgesetz ohne Zustimmung der Staatsregierung nicht kundgemacht werden. Beschließt die Landesversammlung, auf ihrem ursprünglichen Beschlusse zu beharren, so hat dessen Kundmachung durch die Landesregierung zu erfolgen.

(3) Die Gesetzesbeschlüsse der Landesversammlungen erlangen Gesetzeskraft dadurch, daß sie vom Landeshauptmann durch seine Unterschrift beurkundet, vom Landesamtsdirektor mitgefertigt und von der Landesregierung im Landesgesetzblatte kundgemacht werden.

(4) Gesetze, zu deren Vollziehung die Mitwirkung der Staatsregierung notwendig ist, bedürfen der Gegenzeichnung des zuständigen Staatssekretärs oder des Staatskanzlers. Die Gegenzeichnung hat binnen 14 Tagen zu erfolgen. Die Verweigerung der Gegenzeichnung kann nur über Beschluß der Staatsregierung erfolgen, ist zu begründen und unter sinngemäßer Anwendung des Artikels 5 binnen 14 Tagen der Landesregierung bekanntzugeben.

Artikel 15. (1) Gesetzesbeschlüsse einer Landesversammlung können wegen Verfassungswidrigkeit (Artikel 12) von der Staatsregierung binnen 14 Tagen nach Einlangen der Mitteilung (Artikel 13) beim Verfassungsgerichtshofe angefochten werden. Diese Anfechtung ist der Landesregierung unverzüglich mitzuteilen.

(2) Die Kundmachung des angefochtenen Beschlusses darf erst erfolgen, wenn der Verfassungsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit dieses Beschlusses anerkannt hat. Der Verfassungsgerichtshof hat binnen einem Monat das Erkenntnis zu fällen.

Artikel 16. (1) Dieses Gesetz tritt am Tage der Kundmachung in Kraft.

(2) Mit dem Durchführung ist der Staatskanzler betraut.
 

Auf Grund des § 4 des Gesetzes vom 19. Dezember 1918, St.G.Bl. Nr. 139, wird beurkundet, daß der obenstehende Beschluß von der Nationalversammlung am 14. März 1919 gefaßt worden ist.

Der Präsident
Seitz

Der Staatskanzler
Renner

Der Staatsnotar
Sylvester

Gesetz
vom 14. März 1919
über die Staatsregierung

Die konstituierende Nationalversammlung hat beschlossen:

Artikel 1. (1) Mit der Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt werden nach den folgenden Bestimmungen Volksbeauftragte, und zwar der Staatskanzler und die Staatssekretäre betraut.

(2) Sie bilden in ihrer Gesamtheit die Staatsregierung. Den Vorsitz in dieser führt der Staatskanzler und in seiner Vertretung der Vizekanzler.

Artikel 2. (1) Zur Erstattung von Vorschlägen über die Bestellung der Staatsregierung ist der von der Nationalversammlung aus ihrer Mitte gewählte Hauptausschuß berufen (Artikel 10 des Gesetzes über die Volksvertretung).

(2) Die Staatsregierung wird über einen solchen Vorschlag des Hauptausschusses von der Nationalversammlung gewählt. Die Nationalversammlung nimmt die Wahl der Staatsregierung durch namentliche Abstimmung über den Gesamtvorschlag des Hauptausschusses vor. Ist die Nationalversammlung nicht versammelt, so wird die Staatsregierung bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung vom Hauptausschuß bestellt.

(3) Die Angelobung des Staatskanzlers wird vom Präsidenten der Nationalversammlung vor dem Hauptausschusse, die der übrigen Mitglieder der Staatsregierung bei Anwesenheit des Staatskanzlers vorgenommen.

(4) Die Bestallungsurkunden des Staatskanzlers und der Staatssekretäre werden vom Präsidenten mit dem Datum des Tages der Angelobung ausgefertigt und vom neubestellten Staatskanzler gegengezeichnet.

Artikel 3. Bis die neue Staatsregierung gebildet wird, hat der Präsident entweder die scheidende Regierung unter dem Vorsitz des bisherigen Staatskanzlers oder eines Staatssekretärs mit der einstweiligen Fortführung der Geschäfte zu beauftragen, oder leitende Beamte der Staatsämter unter dem Vorsitze eines dieser leitenden Beamten oder eines eigens hierzu bestellten Beamten mit der einstweiligen Leitung der Verwaltung zu betrauen.

Artikel 4. (1) Versagt das Haus der Staatsregierung oder einzelnen Mitgliedern derselben durch ausdrückliche Entschließung sein Vertrauen, so ist eine neue Regierung zu bestellen, beziehungsweise der betreffende Staatssekretär seines Amtes zu entheben.

(2) Zu einem Beschlusse, mit welchem das Vertrauen versagt wird, ist die Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder der Nationalversammlung erforderlich. Doch ist, wenn vierzig Mitglieder es verlangen, die Abstimmung auf den zweitnächsten Werktag zu vertagen. Eine neuerliche Vertagung der Abstimmung kann nur auf Beschluß der Nationalversammlung erfolgen.

(3) Die gesamte Staatsregierung und die einzelnen Mitglieder der Staatsregierung werden in den gesetzlich bestimmten Fällen oder über ihren Wunsch vom Präsidenten der Nationalversammlung ihres Amtes enthoben.

Artikel 5. Die Mitglieder der Staatsregierung sind nach Maßgabe des § 9 des Beschlusses vom 30. Oktober 1918 über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt, St.G.Bl. Nr. 1, der Nationalversammlung verantwortlich.

Artikel 6. (1) Die Geschäfte des Staatsrates und des Staatsratsdirektoriums gehen auf die Staatsregierung über, soweit gesetzlich nicht anders bestimmt ist.

(2) Die in den §§ 14 und 17 des Gesetzes vom 6. Februar 1919, St.G.Bl. Nr. 85, über den Staatsrechnungshof, dem Staatsrat oder seinem Direktorium übertragenen Befugnisse gehen auf den Präsidenten der Nationalversammlung über.

Artikel 7. (1) Die in den bisherigen Gesetzen dem Staatsrate oder dem Staatsratsdirektorium vorbehaltenen Ernennungen und Bestätigungen von Beamten und sonstigen Organen sowie die Verleihungen von Amtstiteln vollzieht der Präsident der Nationalversammlung über Vorschlag der Staatsregierung. Die Ernennung des Präsidenten des Staatsrechnungshofes erfolgt über Vorschlag der Hauptausschusses, von Höheren Beamten über Vorschlag des Präsidenten des Staatsrechnungshofes.

(2) Bezüglich der Ernennung von Richtern bleiben die bestehenden gesetzlichen Vorschriften mit der Änderung in Geltung, daß die Behörden, denen das Vorschlagsrecht zusteht, die Besetzungsvorschläge dem zuständigen Mitgliede der Staatsregierung zur Weiterleitung an die Gesamtregierung erstatten und diese auf Grund des Vorschlages dem Präsidenten der Nationalversammlung einen Besetzungsantrag unterbreitet, den dieser im Sinne des ersten Absatzes vollzieht. Soweit es sich nicht um die Präsidenten und Mitglieder der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes handelt, kann der Präsident der Nationalversammlung den Staatssekretär für Justiz zur Ernennung von Richtern ermächtigen.

(3) Alle diese Akte des Präsidenten der Nationalversammlung bedürfen der Gegenzeichnung des Staatskanzlers oder des ressortmäßig berufenen Mitgliedes der Staatsregierung.

(4) Die gemäß § 16, Absatz 2 und 3, des Grundgesetzes vom 22. November 1918, St.G.Bl. Nr. 38, über die richterliche Gewalt dem Staatsrate zustehenden Befugnisse hat der Präsident der Nationalversammlung im Einvernehmen mit dem zweiten und dem dritten Präsidenten unter Gegenzeichnung des Staatskanzlers und des Staatssekretärs für Justiz auszuüben.

Artikel 8. Der Präsident der Nationalversammlung vertritt die Republik Deutschösterreich nach außen, empfängt und beglaubigt die Gesandten und ratifiziert die Staatsverträge gemäß § 5, 3. Absatz und § 10, 2. Absatz, des Gesetzes vom 19. Dezember 1918, St.G.Bl. Nr. 139 (Verfassungsnovelle).

Artikel 9. (1) Zur Durchführung der Aufgaben der obersten Staatsverwaltung werden in Hinsicht auf die Staatsämter mit dauernden Aufträgen und Vollmachten bestehen:
    die Staatskanzlei mit ihrem bisherigen Wirkungskreise unter der Leitung des Staatskanzlers;
dann:
    1. das Staatsamt für Inneres und Unterricht mit der Zuständigkeit der bisherigen Staatsämter des Innern und für Unterricht;
    2. das Staatsamt für Justiz mit der Zuständigkeit des bisherigen gleichnamigen Staatsamtes;
    3. das Staatsamt für Finanzen mit der Zuständigkeit des bisherigen gleichnamigen Staatsamtes;
    4. das Staatsamt für Land- und Forstwirtschaft mit der Zuständigkeit des bisherigen gleichnamigen Staatsamtes;
    5. das Staatsamt für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten mit der Zuständigkeit der bisherigen Staatsämter für Gewerbe, Industrie und Handel, dann für öffentliche Arbeiten sowie für Kriegs- und Übergangswirtschaft, jedoch unter Ausschluß der Schiffahrtsangelegenheiten sowie der Post-, Telegraphen- und Telephonangelegenheiten;
    6. das Staatsamt für soziale Verwaltung mit der Zuständigkeit der bisherigen Staatsämter für soziale Fürsorge, Volksernährung  und Volksgesundheit;

(2) Das Staatsamt für Inneres und Unterricht steht, wenn mit dessen Führung nicht ein eigener Staatssekretär betraut wird, unter der Leitung des Staatskanzlers, die übrigen Staatsämter stehen unter der Leitung von Staatssekretären.

Artikel 10. Außer den in Artikel 9 bezeichneten Staatsämtern und bis zu deren endgültigen Errichtung, beziehungsweise bis zur Erlassung der zur Durchführung des Artikels 2 des Gesetzes vom 12. November 1918, St.G.Bl. Nr 5, über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich erforderlichen besonderen Gesetze haben unter der Leitung von Staatssekretären noch fortzubestehen:
    1. das Staatsamt für Äußeres,
    2. das Staatsamt für Heerwesen,
    3. das Staatsamt für Volksernährung, mit der Zuständigkeit der bisherigen gleichnamigen Staatsämter,
und
    4. das Staatsamt für Verkehrswesen mit der Zuständigkeit des bisherigen gleichnamigen Staatsamtes unter Einbeziehung der Schiffahrtsangelegenheiten sowie der Post-, Telegraphen- und Telephonangelegenheiten.

Artikel 11. (1) Zur Vertretung des Staatskanzlers wird ein Vizekanzler bestellt. Das Amt des Vizekanzlers kann einem mit der Führung eines Staatsamtes beauftragten oder einem mit bloß persönlichem Wirkungskreise betrauten Staatssekretär (Artikel 13, Absatz 2) übertragen werden.

(2) Das Amt des Staatsnotars und das ihm bisher unterstellte Staatssiegelamt sind aufgehoben.

Artikel 12. Die Staatsregierung ist ermächtigt, innerhalb der allgemeinen Richtlinien der Artikel 9 und 10 über die Zuständigkeit der einzelnen Staatsämter unter Zustimmung des Hauptausschusses durch Vollzugsanweisung die zur fachgemäßen Aufteilung der Geschäfte der Staatsverwaltung und namentlich zur Erleichterung des Überganges erforderlichen näheren Verfügungen zu treffen und den Wirkungskreis der Staatsämter im einzelnen festzusetzen.

Artikel 13. (1) Ausnahmsweise und vorübergehend kann der Staatskanzler, der Vizekanzler oder ein Staatssekretär auch mit der Führung eines ihm nicht nach Artikel 9 und 10 unterstellten Staatsamtes betraut werden.

(2) Andrerseits können in besonderen Fällen auch Staatssekretäre mit einem bloß persönlichen Aufgabenkreis ohne gleichzeitige Betrauung mit der Führung eines Staatsamtes bestellt werden.

(3) In jedem Staatsamt wird in der Regel dem verantwortlichen Leiter zur Wahrung der Einheit und Stetigkeit des Geschäftsganges ein Beamter zur Seite gestellt, der den Amtstitel eines Staatsamtsdirektors führt.

Artikel 14. Dem Staatskanzler und den Staatssekretären können zur Unterstützung in der politischen Geschäftsführung und zur parlamentarischen Vertretung von der Nationalversammlung oder gemäß Artikel 2, Absatz 2, vom Hauptausschusses Unterstaatssekretäre beigegeben werden, welche die ihnen übertragenen Geschäfte im Einvernehmen mit dem verantwortlichen Leiter des Staatsamtes zu besorgen haben.

Artikel 15. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Kundmachung in Kraft. Mit seinem Vollzuge ist der Staatskanzler betraut.
 

Auf Grund des § 4 des Gesetzes vom 19. Dezember 1918, St.G.Bl. Nr. 139, wird beurkundet, daß der obenstehende Beschluß von der Nationalversammlung am 14. März 1919 gefaßt worden ist.

Der Präsident
Seitz

Der Staatskanzler
Renner

Der Staatsnotar
Sylvester

Das Gesetz über die Staatsregierung wurde nach dem Auseinanderbrechen der seit der Staatsgründung 1918 regierenden Großen Koalition aus Sozialdemokraten und Christsozialen durch das Verfassungsgesetz vom 20. Juli 1920, betreffend einstweiliger Bestimmungen für die Wahl der Staatsregierung dahingehend abgeändert bzw. ergänzt, daß anstatt einer Mehrheitsregierung eine Proporzregierung geschaffen wurde.

Bereits die Provisorische Verfassung Deutschösterreichs gibt der parlamentarischen Regierungsform mit der Wahl des Kanzlers durch die Nationalversammlung den Vorzug vor der präsidialen Macht, wie sie das deutsche Reichsgesetz über die vorläufige Verfassung vom 10. Februar 1919 vorgesehen hat. Durch die Verzögerungen beim Abschluß des "Staatsvertrags von St.-Germain-en-Laye" war die Provisorische Verfassung Deutschösterreichs bis zum Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes am 10. November 1920.
 


Quellen: Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich, Jahrgang 1919, 56. Stück ausgegeben am 15. März 1919, S. 405, 407
Fischer / Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte, Geyer-Edition 1970

© 12. Dezember  2001
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