Staatsgrundgesetz
vom 21. Dezember 1867
über die Einsetzung eines Reichsgerichtes.

(R.G.Bl. 143/1867)

Wirksam für Böhmen, Dalmatien, Galizien, Oesterreich unter und ob der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnthen, Krain, Bukowina, Mähren, Schlesien, Tirol und Vorarlberg, Görz und Gradiska, Istrien und die Stadt Triest mit ihrem Gebiete.

Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrathes finde Ich nachstehendes Staatsgrundgesetz zu erlassen, und anzuordnen wie folgt.

Artikel 1. Zur Entscheidung bei Competenzconflicten und in streitigen Angelegenheiten öffentlichen Rechtes wird für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder ein Reichsgericht eingesetzt.

Artikel 2. Das Reichsgericht hat endgiltig zu entscheiden bei Competenzconflicten:
a) zwischen Gerichts- und Verwaltungsbehörden über die Frage, ob eine Angelegenheit im Rechts- oder Verwaltungswege auszutragen ist, in den durch das Gesetz bestimmten Fällen;
b) zwischen einer Landesvertretung und den obersten Regierungsbehörden, wenn jede derselben das Verfügungs- oder Entscheidungsrecht in einer administrativen Angelegenheit beansprucht;
c) zwischen den autonomen Landesorganen verschiedener Länder in den ihrer Besorgung und Verwaltung zugewiesenen Angelegenheiten.

Artikel 3. Dem Reichsgerichte steht ferners die endgiltige Entscheidung zu:
a) über Ansprüche einzelner der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder an die Gesammtheit derselben und umgekehrt, dann über Ansprüche eines dieser Königreiche und Länder an ein anderes derselben, endlich über Ansprüche, welche von Gemeinden, Körperschaften oder einzelnen Personen an eines der genannten Königreiche und Länder oder an die Gesammtheit derselben gestellt werden, wenn solche Ansprüche zur Austragung im ordentlichen Rechtswege nicht geeignet sind;
b) über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte nachdem die Angelegenheit im gesetzlich vorgeschriebenen administrativen Wege ausgetragen worden ist.

Artikel 4. Ueber die Frage, ob die Entscheidung eines Falles dem Reichsgerichte zusteht, erkennt einzig und allein das Reichsgericht selbst; dessen Entscheidungen schließen jede weitere Berufung sowie die Betretung des Rechtsweges aus.

Wird die Angelegenheit vom Reichsgerichte vor den ordentlichen Richter oder vor eine Verwaltungsbehörde gewiesen, so kann die Entscheidung von denselben wegen Incompetenz nicht abgelehnt werden.

Artikel 5. Das Reichsgericht hat seinen Sitz in Wien und besteht aus dem Präsidenten und seinem Stellvertreter, welche vom Kaiser auf Lebensdauer ernannt werden, dann aus zwölf Mitgliedern und vier Ersatzmännern, welche der Kaiser auf Vorschlag des Reichsrathes, und zwar sechs Mitglieder und zwei Ersatzmänner aus den durch das Abgeordnetenhaus, dann sechs Mitglieder und zwei Ersatzmänner aus den von dem Herrenhause vorgeschlagenen Personen ebenfalls auf Lebensdauer ernennt.

Der Vorschlag wird in der Weise erstattet, daß für jede der zu besetzenden Stellen drei sachkundige Männer bezeichnet werden.

Artikel 6. Ein besonderes Gesetz wird die näheren Bestimmungen über die Organisation des Reichsgerichtes, über das Verfahren vor demselben und über die Vollziehung seiner Entscheidungen und Verfügungen feststellen.

hierzu Gesetz R.G.Bl. 44/1869

Wien, am 21. Dezember 1867

Franz Joseph

Freiherr von Beust
Graf Taaffe
Freiherr von John, F.M.L.
Freiherr von Becke
Ritter von Hye

Auf Allerhöchste Anordnung
Bernhard Ritter von Meyer

Dieses Reichsgrundgesetz ist mit dem Untergang der Österreichisch-ungarischen Monarchie Mitte November 1918 wirkungslos geworden.
 


Quellen: Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich Nr. 143 aus dem Jahr 1867
Fischer / Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte, Geyer-Edition 1970
© 19. Dezember  2001
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