Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich
vom 30. Oktober 1918
über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt

(St.G.Bl. 1/1918)

geändert durch Gesetz vom 19. Dezember 1918, womit einige Bestimmungen des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 1918, St.G.Bl. Nr. 1, abgeändert oder ergänzt werden.

§ 1. Vorbehaltlich der Beschlüsse der konstituierenden Nationalversammlung wird einstweilen die oberste Gewalt des Staates Deutschösterreich durch die auf Grund des gleichen Wahlrechtes aller Bürger gewählte Provisorische Nationalversammlung ausgeübt.

Die provisorische Nationalversammlung wurde durch die deutschsprachigen Abgeordneten des kaiserlich-österreichischen Abgeordnetenhauses aufgrund des Kaiserlichen Manifestes vom 16. Oktober 1918, R.G.Bl 240/1918 gebildet und konstituierte sich am 21. Oktober 1918.

§ 2. Die gesetzgebende Gewalt wird von der Provisorischen Nationalversammlung selbst ausgeübt.

§ 3. Mit der Regierungs- und Vollzugsgewalt betraut die Provisorische Nationalversammlung einen Vollzugsausschuß, den sie aus ihrer Mitte bestellt.

Der Vollzugsausschuß führt den Titel "Deutschösterreichischer Staatsrat".

§ 4. Der Staatsrat besteht aus den drei Präsidenten der Nationalversammlung, die ihm kraft dieses Amtes angehören, aus weiteren zwanzig Mitgliedern und ebensovielen Ersatzmännern, die verhältnismäßig aus dem Hause gewählt werden.

Der Staatsrat ist ständig. Er bleibt im amt, bis die neugewählte Nationalversammlung den neuen Staatsrat eingesetzt hat.

§ 5. Der Staatsrat konstituiert sich unter dem Vorsitze des Präsidenten, bestellt aus seiner Mitte den Leiter seiner Kanzlei, der für die Führung der Staatsratsprotokolle verantwortlich ist, und den Notar des Staatsrates, der die Ausfertigungen des Staatsrates beurkundet.

Die drei Präsidenten, der Leiter der Kanzlei und der Notar bilden das geschäftsführende Staatsratsdirektorium.

Durch Gesetz vom 19. Dezember 1918 (§ 6 Absatz 3) wurde der § 5 Absatz 2 aufgehoben.

§ 6. Die Präsidenten vertreten den Staatsrat nach außen, somit vor den Staatsbürgern wie vor den Vertretern anderer Staaten und Nationen.

Ausfertigungen des Staatsrates sind ungültig, wenn sie nicht von einem der Präsidenten gefertigt und vom Leiter der Kanzlei und dem Notar des Staatsrates mitunterzeichnet sind.

Durch Gesetz vom 19. Dezember 1918 (§ 3 Absatz 4) wurde der § 6 Absatz 2 aufgehoben.

§ 7. Der Staatsrat berät die Vorlagen an die Nationalversammlung vor, beurkundet deren Beschlüsse, macht sie kund und erläßt die nötigen Vollzugsanweisungen.

Durch Gesetz vom 19. Dezember 1918 (§ 4 Absatz 7) wurde der § 7 aufgehoben.

§ 8. Der Staatsrat führt die Geschäfte der Staatsverwaltung nicht unmittelbar, sondern durch Beauftragte.

Die Beauftragten bilden in ihrer Gesamtheit die Staatsregierung.

§ 9. Die Beauftragten sind jeder einzeln und alle vereint für die Befolgung der Beschlüsse der Nationalversammlung, die erfüllung der Aufträge und die Einhaltung der Vollmachten, die ihnen der Staatsrat erteilt, dem Staatsrat und der Nationalversammlung verantwortlich.

Das Gesetz vom 25. Juli 1867, R.G.Bl. Nr. 101, über die Verantwortlichkeit der Minister der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder findet auf die Staatsbeauftragten sinngemäß mit der vorläufigen Maßgabe Anwendung, daß an die stelle des Staatsgerichtshofes ein 20gliedriger Ausschuß der Provisorischen Nationalversammlung tritt.

§ 10. Die Beauftragten bestellt der Staatsrat, er setzt dabei im Rahmen der Beschlüsse der Nationalversammlung (§ 12) den Umfang der erteilten Aufträge und Vollmachten fest. Die Beauftragung ist jederzeit durch Beschluß des Staatsrates widerruflich.

§ 11. Jedem Beauftragten ist ein besonderes Amt mit allen nötigen persönlichen und fachlichen Erfordernissen unterstellt. Ein solches Amt trägt die Bezeichnung "Staatsamt". Der Beauftragte führt als Vorsteher dieses Amtes den Titel "Staatssekretär" unter Beifügung des Zusatzes (§ 13), der das unterstellte Amt bezeichnet.

§ 12. Die allgemeinen zuständigen Aufträge und Vollmachten der Staatsämter werden durch Beschluß der Nationalversammlung festgestellt und abgegrenzt.

Bis auf weiteres, bis die Nationalversammlung die Zahl der Staatsämter verringert und deren Aufträge und Vollmachten neu regelt, wird Auftrag und Vollmacht jedes Staatssekretärs und Staatsamts vorläufig - vorbehaltlich der im § 13 getroffenen Änderungen - nach Umfang und Grenzen ebenso festgesetzt, wie die derzeitige Zuständigkeit der für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder bestehenden Ministerien.

§ 13. Demnach werden einstweilen eingerichtet:
    ein Staatsamt des Äußern mit der Zuständigkeit des bisherigen k. und k. Ministeriums des Äußern und mit Auftrag und Vollmacht, auch die auswärtigen Beziehungen zu den auf dem Boden der bisherigen österreichisch-ungarischen Monarchie entstehenden souveränen Nationalstaaten zu regeln und zu pflegen;
    ein Staatsamt für Heerwesen, das sich die Aufträge und Vollmachten des k. und k. Kriegsministeriums einschließlich der Marinesektion und des k.k. Ministeriums für Landesverteidigung vereinigt;
    ein Staatsamt des Innern;
    ein Staatsamt für Unterricht;
    ein Staatsamt für Justiz;
    ein Staatsamt für Landwirtschaft, entsprechend dem k.k. Ackerbauministerium;
    ein Staatsamt für Gewerbe, Industrie und Handel, entsprechend dem k.k. Handelsministerium;
    ein Staatsamt für öffentliche Arbeiten;
    ein staatsamt für Verkehrswesen, entsprechend dem k.k. Eisenbahnministerium;
    ein Staatsamt für Volksernährung, entsprechend dem k.k. Amte für Volksernährung;
    ein Staatsamt für soziale Fürsorge;
    ein Staatsamt für Volksgesundheit;
    ein Staatsamt für Kriegs- und Übergangswirtschaft mit Auftrag und Vollmacht, die planmäßige, rasche und stetige Zusammenarbeit der volkswirtschaftlichen und sozialen Ämter während der Kriegs- und Übergangszeit zu sichern.

§ 14. Der Staatsrat kann auch für verwandte Staatsämter gemeinsam einen Staatssekretär bestellen und bei Bedarf die gemeinsame Beauftragung wieder teilen.

§ 15. Der Staatsrat betraut einen der Staatssekretäre mit dem Vorsitz in der Staatsregierung.

Dieser erhielt den Titel "Staatskanzler".

Durch Gesetz vom 19. Dezember 1918 (§ 11 Absatz 3) wurde der § 15 aufgehoben.

§ 16. Insoweit Gesetze und Einrichtungen, die in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern in Kraft stehen, durch diesen Beschluß nicht aufgehoben oder abgeändert sind, bleiben sie bis auf weiteres in vorläufiger Geltung.

§ 17. Mit dem Vollzug dieses Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung ist der Deutschösterreichische Staatsrat betraut.
 

Auf Grund des § 7 des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt wird beurkundet, daß der obenstehende Beschluß von der Provisorischen Nationalversammlung am 30. Oktober 1918 gefaßt worden ist.

Der Präsident
Seitz

Der Staatskanzler
Renner

Der Staatsnotar
Sylvester
 


Quellen: Fischer / Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte, Geyer-Edition 1970
© 9. Dezember  2001
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