Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs
vom 27. April 1945

(St.G.Bl. 1/1945)

Angesichts der Tatsache,

daß der Anschluß des Jahres 1938 nicht, wie dies zwischen zwei souveränen Staaten selbstverständlich ist, zur Wahrung aller Interessen durch Verhandlungen von Staat zu Staat vereinbart und durch Staatsverträge abgeschlossen,

sondern durch militärische Bedrohung von außen und den hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet, einer wehrlosen Staatsleitung abgelistet und abgepreßt,

endlich durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist,

angesichts der weiteren Tatsachen,

daß die so vollzogene Annexion des Landes sofort mißbraucht worden ist,

alle zentralen staatlichen Einrichtungen der ehemaligen Bundesrepublik Österreich, seine Ministerien und sonstigen Regierungseinrichtungen zu beseitigen und deren Bestände nach Berlin wegzuführen, so den historisch gewordenen einheitlichen Bestand Österreichs aufzulösen und vollkommen zu zerstören,

Österreichs Hauptstadt Wien, die vielhundertjährige glorreiche Residenzstadt, zu einer Provinzstadt zu degradieren,

die Bundesländer aller ihrer geschichtlichen Selbstregierungsrechte zu berauben und zu willenlosen Verwaltungssprengeln unberufener und dem Volke unverantwortlicher Statthalter zu machen,

und darüber hinaus angesichts der Tatsachen,

daß diese politische Annexion Österreichs zur wirtschaftlichen und kulturellen Beraubung Wiens und der österreichischen Bundesländer ausgenützt und mißbraucht worden ist,

die Österreichische Nationalbank aufzuheben und ihren Goldschatz nach Berlin zu entführen, alle großen Unternehmungen Österreichs reichsdeutschen Firmen einzuverleiben

und so das österreichische Volk aller selbständigen Verfügung über die natürlichen Quellen seines Wohlstandes zu berauben;

daß dieser Mißbrauch endlich dem österreichischen Volke auch seine geistigen und kulturellen Hilfsquellen verkümmert hat, indem er die unermeßlichen Kunst- und Kulturschätze des Landes, welche selbst der harte Friede von Saint-Germain durch ein 20jähriges Verbot vor jeder Veräußerung geschützt hat, der Verschleppung außer Landes preisgegeben hat,

und endlich angesichts der Tatsache,

daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes

das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des
Hasses gehegt hat,

in einen Eroberungskrieg, der von den Eisfeldern des hohen Nordens bis zu den Sandwüsten Afrikas, von der stürmischen Küste des Atlantiks bis zu den Felsen des Kaukasus

viele Hunderttausende der Söhne unseres Landes, beinahe die ganze Jugend- und Manneskraft unseres Volkes, bedenkenlos hingeopfert hat,

um zum Schlusse noch unsere heimatlichen Berge als letzte Zuflucht gescheiterter Katastrophenpolitiker zu benützen und kriegerischer Zerstörung und Verwüstung preiszugeben,

angesichts dieser Tatsachen und im Hinblick darauf,

daß durch die drei Weltmächte in wiederholten feierlichen Deklarationen

insbesondere in der Deklaration der Krimkonferenz und in der Konferenz der Außenminister Hull, Eden und Molotow zu Moskau Oktober
1943 festgelegt worden ist:
"Die Regierungen Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika kamen überein, daß Österreich, das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist, von der deutschen Herrschaft befreit werden muß.  Sie betrachten den Anschluß, der Österreich am 15. März 1938 von Deutschland aufgezwungen worden ist, als null und nichtig. Sie geben ihrem Wunsche Ausdruck, ein freies und wiederhergestelltes Österreich zu sehen und dadurch dem österreichischen Volke selbst, ebenso wie anderen benachbarten Staaten, vor denen ähnliche Probleme stehen werden, die Möglichkeit zu geben, diejenige politische und wirtschaftliche Sicherheit zu finden, die die einzige Grundlage eines dauerhaften Friedens ist."

Angesichts der angeführten Tatsachen und im Hinblick auf die feierlichen Erklärungen der drei Weltmächte, denen sich inzwischen beinahe alle Regierungen des Abendlandes angeschlossen haben, erlassen die unterzeichneten Vertreter aller antifaschistischen Parteien Österreichs ausnahmslos die nachstehende
Unabhängigkeitserklärung.

Unabhängigkeitserklärung.

Artikel I. Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten.

Artikel II. Der im Jahre 1938 dem österreichischen Volke aufgezwungene Anschluß ist null und nichtig.

Artikel III. Zur Durchführung dieser Erklärung wird unter Teilnahme aller antifaschistischen Parteirichtungen eine Provisorische Staatsregierung eingesetzt und vorbehaltlich der Rechte der besetzenden Mächte mit der vollen Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt betraut.

Artikel IV. Vom Tage der Kundmachung dieser Unabhängigkeitserklärung sind alle von Österreichern dem Deutschen Reiche und seiner Führung geleisteten militärischen, dienstlichen oder persönlichen Gelöbnisse nichtig und unverbindlich.

kundgemacht am 1. Mai 1945

Artikel V. Von diesem Tage an stehen alle Österreicher wieder im staatsbürgerlichen Pflicht- und Treueverhältnis zur Republik Österreich.

In pflichtgemäßer Erwägung des Nachsatzes der erwähnten Moskauer Konferenz, der lautet:

"Jedoch wird Österreich darauf aufmerksam gemacht, daß es für die Beteiligung am Kriege auf seiten Hitlerdeutschlands Verantwortung trägt, der es nicht entgehen kann, und daß bei der endgültigen Regelung unvermeidlich sein eigener Beitrag zu seiner Befreiung berücksichtigt werden wird.",
wird die einzusetzende Staatsregierung ohne Verzug die Maßregeln ergreifen, um jeden ihr möglichen Beitrag zu seiner Befreiung zu leisten, sieht sich jedoch genötigt, festzustellen, daß dieser Beitrag angesichts der Entkräftung unseres Volkes und Entgüterung unseres Landes zu ihrem Bedauern nur bescheiden sein kann.
 

Wien, den 27. April 1945.

Urkund dessen die eigenhändigen Unterschriften der Vorstände der politischen Parteien Österreichs:

Für den Vorstand der österreichischen Sozialdemokratie, nunmehr Sozialistische Partei Österreichs (Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten):
Dr. Karl Renner m. p.
Dr. Adolf Schärf m. p.

Für den Vorstand der Christlichsozialen Volkspartei bzw. nunmehr Österreichische Volkspartei:
Leopold Kunschak m. p.

Für die Kommunistische Partei Österreichs:
Johann Koplenig m. p.


Quellen: Rechtsinformationssystem der Bundesregierung
Fischer / Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte, Geyer-Edition 1970
© 16. Dezember  2001
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