(R.G.Bl. 82/1868)
Mit Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrathes finde Ich verordnen, wie folgt.
§ 1. Wenn der Vorbehalt des § 7 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, Nr. 141 R.G.Bl., den Vollzug der Wahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses des Reichsrathes unmittelbar durch die Gebiete, Städte und Körperschaften anzuordnen, zur Anwendung gelangt, so ist die nach Maßgabe des Anhanges zu den Landesordnungen auf bestimmte Gruppen entfallende Zahl von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses durch die Landtagsberechtigten derselben Gruppen unmittelbar zu wählen.
§ 2. Als Reichsrathsabgeordneter ist jeder wählbar, welcher als Landtagsabgeordneter wählbar ist.
§ 3. Bei der Durchführung der unmittelbaren Wahl in das Haus der Abgeordneten des Reichsrathes haben die für die Landtagswahlen bestehenden gesetzlichen Anordnungen Anwendung zu finden, in soweit nicht im Nachfolgenden anderes bestimmt wird.
§ 4. In Böhmen, Mähren, Schlesien, in der Bukowina und in Görz-Gradisca hat die Abtheilung der Wählerclasse des großen Grundbesitzes in zwei Wahlkörper zu entfallen, und es haben sämmtliche Wähler dieser Classe ihr Stimmrecht in Einem Wahlkörper vor einer Wahlcommission auszuüben, welche in der durch die Landtagswahlordnung hinsichtlich des zweiten Wahlkörpers dieser Wählerclasse vorgeschriebenen Weise zusammenzusetzen ist.
Die in der Landtagswahlordnung für Schlesien und für die Bukowina den Wählern des ersten Wahlkörpers des großen Grundbesitzes vorgezeichnete Einsendung von Stimmzetteln an den Landeschef findet nicht statt; es bleibt ihnen aber freigestellt, ihr Stimmrecht durch einen Bevollmächtigten unter den in der Landtagswahlordnung bestimmten Bedingungen auszuüben.
§ 5. Die im § 3. I. der Landesordnung für Tirol aufgeführten Wähler haben, auch wenn sie die Wählerclasse des adeligen großen Grundbesitzes nicht angehören, in gleicher Weise wie die Wahlberechtigten des adeligen großen Grundbesitzes in dem Wahlkörper derselben und gemeinschaftlich mit ihnen das Stimmrecht zu üben.
§ 6. In soweit in Salzburg, Görz-Gradisca und Istrien Wähler aus dem großen Grundbesitze oder aus Landgemeinden mit Wählern aus den Städten, Märkten und Industrieorten in einer und derselbe Gruppe zusammentreffen, haben die letzteren das Wahlrecht durch gewählte Wählmänner in derselben Weise auszuüben, wie dieß hinsichtlich der Landgemeinden vorgeschrieben ist.
§ 7. Die Stimmgebung bei der unmittelbaren Wahl in das Haus der Abgeordneten geschieht, wie bei der Wahl durch die Landtage mittelst Stimmzettel, worauf jeder Stimmberechtigte so viele Namen zu verzeichnen hat, als Abgeordnete zu wählen sind.
Bei Ueberschreitung dieser Zahl sind die auf dem Stimmzettel zuletzt angesetzten Namen unberücksichtigt zu lassen.
§ 8. Im Falle der Ausschreibung allgemeiner unmittelbarer Wahlen in einem der im § 6 angeführten Länder hat jene Gruppe von Wählerclassen zuerst die Wahl vorzunehmen, in welcher die Landgemeinden vorkommen.
§ 9. Haben die Wähler des großen Grundbesitzes in Einem Wahlkörper, eine Stadt in Einem Wahlbezirke, eine Handels- und Gewerbekammer oder sonst ein Wahlkörper für sich allein einen oder mehrere Reichsrathsabgeordnete zu wählen, so ist die Wahl in der nämlichen Weise zu vollziehen und mit dem über die Wahlhandlung geführten Protokolle sammt Bezugsacten ebenso zu verfahren, wie dieß für die Landtagswahlen vorgeschrieben ist.
§ 10. Wenn mehrere Städte, Märkte oder andere Orte die directe Wahl gemeinschaftlich zu vollziehen haben, so ist jede dieser Ortschaften für sich allein ein Wahlort. Auch bei gemeinschaftlicher Wahl von Handels- und Gewerbekammern wählen dieselben an ihrem Standorte.
Die Leitung der in jeder dieser Ortschaften in Gegenwart eines landesfürstlichen Commissärs zu vollziehenden Wahlhandlung obliegt einer Wahlcommission, welche aus dem Bürgermeister (Gemeindevorsteher) oder dem von ihm bestellten Stellvertreter und zwei Mitgliedern der Gemeindevertretung des Wahlortes, dann aus vier vom Wahlcommissär beigezogenen Wahlberechtigten des Wahlkörpers zu bestehen.
§ 11. In soferne die Wahl gemeinschaftlich in mehreren Landtagswahlbezirken der städtischen (§ 6) der der Landgemeinden mittelst Wahlmänner stattfindet, ist jeder für die Landtagswahl bestimmte Wahlort auch der Wahlort für die unmittelbare Wahl.
§ 12. In allen Fällen, in welchen die gemeinschaftliche Wahl in verschiedenen Landtagswahlbezirken oder überhaupt an mehreren Wahlorten vorgenommen wird, ist der Hautpwahlort zur Ermittlung des Gesammtergebnisses der in den einzelnen Wahlorten vollzogenen Wahlhandlungen vom Landeschef zu bestimmen.
"Landeschef" ist die Bezeichnung des Chefs der staatlichen Verwaltung im Lande, also der Verwaltung im Namen des Reiches; diese ist vollständig von der Landesverwaltung, welche durch den Landesausschuß erfolgt, getrennt, so daß man von einer Doppelgleisigkeit der Verwaltung gesprochen hat. Unter der Bezeichnung "Landeschef" waren die Titel "Statthalter" und "Landespräsident" vereint, wobei in den Ländern (als staatliche Verwaltungsbezirke) mit größerer Bedeutung ein Statthalter, in den kleineren Ländern ein Landespräsident ernannt wurde.
§ 13. Umfaßt die Gruppe der Landtagswahlberechtigten, welche einen oder mehrere Rechsrathsabgeordnete gemeinschaftlich zu wählen haben, verschiedene Wählerclassen, Landtagswahlbezirke oder sonstige Wahlkörper oder findet die gemeinschaftliche Wahl in Gemäßheit des § 10 an mehreren Wahlorten statt, so wird die Abstimmung in jedem der an der gemeinschaftlichen Wahl betheiligten Wahlkörper und Wahlorte nach den Bestimmungen der Landtagswahlordnung vorgenommen, und es hat jeder Wähler, wenn auf die Gruppe zwei oder mehrere Abgeordnete entfallen, so viele Namen zu bezeichnen, als Abgeordnete zu wählen sind.
Nachdem sohin die Stimmgebung für geschlossen erklärt und das Abstimmungsverzeichniß unterfertigt, die Scrutinirung vorgenommen und das Resultat der vollendeten Stimmzählung von dem Vorsitzenden der Wahlcommission bekannt gegeben worden ist, wird das über die Wahlhandlung geführte Protokoll geschlossen, von den Gliedern der Wahlcommission und dem landesfürstlichen Commissär unterschrieben, gemeinschaftlich unter Anschluß der Abstimmungsverzeichnisse und sonstigen Bezugsacten versiegelt, mit einer den Inhalt bezeichnenden Aufschrift versehen und dem landesfürstlichen Commissär übergeben, welch letzterer die Acten, wenn die Hauptwahlcommission am Sitze der Landesstelle zusammentritt, an den Landeschef und außerdem an den landesfürstlichen politischen Amtsvorsteher des Versammlungsortes der Hauptwahlcommission einzusenden hat.
§ 14. In dem im vorigen Paragraphe vorausgesetzten Falle obliegt, nachdem die Abstimmung in allen, an demselben Wahlacte theilnehmenden Wahlkörpern und Wahlorten beendigt ist, die Ermittlung und Kundgebung des Gesammtergebnisses aller Abstimmungsacte einer Hauptwahlcommission, welche zu diesem Ende nach ihrer Constituirung die von den einzelnen Wahlcommissionen eingesendeten Acten zu übernehmen hat.
Die Hauptwahlcommission versammelt sich in Gegenwart eines landesfürstlichen Commissärs in dem Hauptwahlorte und hat aus sieben Mitgliedern, nämlich aus dem Bürgermeister (Gemeindevorsteher) oder dessen Stellvertreter und zwei Mitgliedern der Gemeindevertretung des Hauptwahlortes, dann aus vier vom Wahlcommissär ernannten, an der Wahl betheiligten Wahlberechtigten zu bestehen.
Ist aber die Wählerschaft des Hauptwahlortes an der Wahl nicht betheiligt, so bestimmt der Wahlcommissär aus den Wahlberechtigten auch die anderen drei Mitglieder.
Der Vorsitzende der Hauptwahlcommission wird von den Commissionsmitgliedern aus ihrer Mitte ernannt.
Jeder an der Wahl betheiligte Wahlberechtigte hat Zutritt in das Locale der Hauptwahlcommission.
§ 15. Für Wien ist die Hauptwahlcommission in der im § 35, 2) der Landtagswahlordnung für Oesterreich unter der Enns vorgeschriebenen Weise zusammenzusetzen. Den Vorsitz führt der Bürgermeister oder der von ihm bestellte Stellvertreter.
In den übrigen Städten (außer Triest, § 16), welche für den Landtag nach Bezirken wählen, ist die Hauptwahlcommission ebenso zusammenzusetzen, wie für die Bezirkswahlcommissionen in den Landtagswahlordnungen bestimmt ist.
§ 16. In der reichsunmittelbaren Stadt Triest mit ihrem Gebiete ist die unmittelbare Wahl der von dort in den Reichsrath zu entsendenden zwei Abgeordneten ohne Theilung derselben zwischen Stadt und Gebiet, mit Beachtung der in dem Statute über die Wahl der städtischen Vertretung und der in diesem Gesetze enthaltenen Bestimmungen, und zwar in der Stadt in Einem Wahlkörper und abgesondert im Gebiete durchzuführen.
Jeder Wähler hat auf seinem Stimmzettel zwei Namen zu verzeichnen.
Die Hauptwahlcommission für die Stadt mit ihrem Gebiet hat unter dem Vorsitz des Podestà oder seines Stellvertreters aus zwei von ihm beigezogenen Stadträthen und aus vier anderen, vom Statthalter bestimmten Wahlberechtigten der Stadt und des Gebietes zu bestehen.
§ 17. Zur Giltigkeit der Wahl jedes Reichsrathsabgeordneten ist die absolute Mehrheit der Stimmenden nothwendig.
Bei Gleichheit der Stimmen entscheidet in allen Fällen das Los, welches von dem Vorsitzenden der Wahl-, beziehungsweise Hauptwahlcommission zu ziehen ist.
§ 18. Ergibt sich bei der Stimmzählung für einen oder den anderen zu wählenden Abgeordneten keine solche Stimmenzahl, so wird sogleich zu einer engeren Wahl geschritten.
Bei der engeren Wahl haben die Wähler sich auf jene Personen zu beschränken, die beim ersten Scrutin nach denjenigen, welche die absolute Mehrheit erlangten, die relativ meisten Stimmen für sich hatten.
Die Zahl der in die engere Wahl zu bringenden Personen ist imme r das doppelte von der Zahl der noch zu wählenden Abgeordneten.
Jede Stimme, welche beim zweiten Scrutin auf eine nicht in die engere Wahl gebrachte Person fällt, ist als ungiltig zu betrachten.
§ 19. Zeigt sich der Mangel der erforderlichen Stimmenzahl im Falle des § 14 bei der durch die Hauptwahlcommission vorgenommenen Ermittlung des Gesammt-Abstimmungsergebnisses, so veranlaßt der Landeschef in allen betreffenden Wahlkörpern und Wahlorten die engere Wahl, deren Gesammtergebniß gleichfalls aus den Abstimmungsacten der einzelnen Wahlcommissionen durch die Hauptwahlcommission zu ermitteln ist.
§ 20. Den abgeschlossenen Wahlact sammt allen von den Wahlcommissionen eingesendeten Bezugsacten hat die Hauptwahlcommission in der den Wahlcommissionen für die Landtagswahlen in der Landtagswahlordnung vorgeschriebenen Weise dem landesfürstlichen Commissär zur Einsendung an den Landeschef zu übergeben.
§ 21. Der Landeschef hat nach Einsichtnahme der nach §§ 9 und 20 an ihn gelangten Wahlacten jeden gewählten Abgeordneten, gegen den kein Ausschließungsgrund von der Wählbarkeit in den Landtag vorliegt, ein Wahlcertificat auszufertigen und zustellen zu lassen, welches den Gewählten zum Eintritte in die Versammlung der Abgeordneten des Reichsrathes berechtigt.
§ 22. Sämmtliche Wahlacten hat der Landeschef an das Ministerium des Innern zu leiten, von wo aus dieselben an das Haus der Abgeordneten zur Prüfung und Beschlußfassung nach § 3 des Gesetzes vom 21. Juli 1861, R.G.Bl. Nr. 78 zu gelangen haben.
§ 23. Mit dem Vollzuge dieses Gesetzes wird der Minister des Innern beauftragt.
Wien, am 29. Juni 1868
Franz Joseph
Auersperg
Giskra
Das vorstehende Gesetz wurde auch als "Notwahlgesetz" bezeichnet, da es nur in Wirkung trat, wenn ein Landtag sich weigerte, die von ihr zu wählende Anzahl in das Abgeordnetenhauses des Reichsrates zu bestimmen. Bereits 1870 kam es zur Anwendung in Böhmen. Mit dem Gesetz R.G.Bl. Nr. 24 von 1872 wurde es auch auf die Ersatzwahl nach dem Erlöschen eines Abgeordnetenmandats ausgedehnt.
Durch das Gesetz R.G.Bl. Nr. 40 von 1873 wurde eine direkte Wahl der Abgeordneten des Reichsrates festgeschrieben und damit das vorstehende Gesetz aufgehoben. Das Gesetz von 1873 sah jedoch eine Wahl nach Kurien (Wählerklassen) und mit einem Zensus (Bedingung für die Wahlberechtigung war die Steuerpflicht über einen bestimmten Geldbetrag) war und so entsandten die Großgrundbesitzer, die Städte, die Handels- und Gewerbekammern und die Landgemeinden eine festgelegte Anzahl von Abgeordneten. Durch Gesetz R.G.Bl. Nr. 142 von 1882 wurde das Wahlrecht minimal reformiert, durch Gesetz R.G.Bl. Nr. 226 von 1896 wurde eine fünfte Wählerklasse, die "Allgemeine Wählerklasse" eingeführt. Durch Gesetze R.G.Bl. Nrn. 13-20 von 1897 wurden die Wahlbezirke in einigen Kronländern neu abgegrenzt und schließlich durch Gesetz R.G.Bl. Nr. 15+17 von 1907 wurde das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für das Abgeordnetenhaus des Reichsrates festgeschrieben.
Entgegen den Entwicklungen in
Deutschland, wo bereits 1867 das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht
für den Reichstag eingeführt wurde, war Österreich einer
der letzten großen Staaten in Europa, die dieses Wahlrecht eingeführt
haben. Anders dagegen war der Schutz der Grundrechte, die durch das
Staatsgrundgesetz R.G.Bl. Nr. 142 von 1867 bereits
seit 1867 in Österreich durch ein "Reichsgericht" (Artikel 3 lit.
b) des Staatsgrundgesetzes R.G.Bl. Nr. 143 von
1867) gerichtlich geschützt; hierfür hat man in Deutschland bis
1949 gebraucht ("Grundrechtsbeschwerde").