Gesetz
vom 28. Dezember 1920,
über die gemeinsame Landesverfassung von Niederösterreich

geändert und ergänzt durch
Landesverfassungsgesetz vom 9. März 1921 (LGBl. Nr. 191/1921).

aufgehoben durch
Landesverfassungsgesetz vom 29. Dezember 1921, mit welchem die gemeinsame Landesverfassung von Niederösterreich außer Kraft gesetzt wird (LGBl. Nr. 364)
mit Wirkung vom 31. Dezember 1921

Der Landtag von Niederösterreich hat beschlossen:

Erstes Hauptstück.
Allgemeine Bestimmungen.

Artikel 1. (1) Niederösterreich ist im Sinne des Artikels 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 1, ein selbständiges Bundesland der demokratischen Republik Österreich.

(2) Das Land Niederösterreich gliedert sich in die Landesteile Niederösterreich-Land und Wien.

(3) Jeder der beiden Landesteile hat in allen Angelegenheiten, die nicht von diesem Verfassungsgesetze als gemeinsam erklärt werden, im Sinne des Artikels 110 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 1, die Stellung eines selbständigen Bundeslandes.

Artikel 2. (1) Eine Änderung der derzeitigen Grenzen zwischen Niederösterreich-Land und Wien kann dann eingeleitet werden, wenn der Gemeinderat einer an Wien angrenzenden Gemeinden einen Antrag auf Angliederung der ganzen Gemeinde oder eines Teiles derselben an Wien zum Beschusse erhebt. Diese Grenzänderung tritt in Rechtswirksamkeit, sobald dem Beschlusse des in Betracht kommenden Gemeinderates übereinstimmende Beschlüsse des Wiener Gemeinderates als Landtages und des Landtages für Niederösterreich-Land hinzutreten. In diesen Beschlüssen sind auch die Vermögensauseinandersetzung und die Ergänzungswahl zu regeln.

(2) Der Wiener Gemeinderat teilt seinen Beschluß dem Landtage von Niederösterreich-Land mit. Dieser hat binnen drei Monaten vom Tage der Mitteilung über die beabsichtigte Erweiterung Beschluß zu fassen. Die Unterlassung dieser Beschlußfassung gilt als Zustimmung. Stimmt sein Beschluß mit dem des Wiener Gemeinderates nicht überein, so entscheidet eine Schiedskommission, in die von beiden Landtagen binnen 14 Tagen je sechs auf dem Gebiete der Gemeindeverwaltung und der Volkswirtschaft erfahrene Personen zu entsenden sind, die dem Landtag, der sie wählt, nicht angehören müssen. Die Mitglieder der Schiedskommission treten über eine sofort nach der Wahl zu erfolgende Einladung des Vorsitzenden der Verwaltungskommission zur Konstituierung zusammen und wählen mit unbedingter Mehrheit eine weitere Person als Obmann. Kommt keine unbedingte Mehrheit zustande, so ist der Präsident des Verfassungsgerichtshofes zu ersuchen, diese Stelle zu übernehmen oder einen anderen Obmann zu bestimmen.

(3) Die Schiedskommission ist bei Anwesenheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder beschlußfähig. Sie faßt ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit. Der Obmann gibt seine Stimme nur bei Stimmengleichheit ab.

(4) Die Schiedskommission hat binnen sechs Wochen nach ihrer Konstituierung zu entscheiden; ihre Entscheidung ist endgültig.

Artikel 3. Für jeden der beiden Landesteile besteht eine inden Verfassungsgesetzen der beiden Landesteile näher bezeichnete besondere Landesbürgerschaft.

Artikel 4. (1) Als beiden Landesteilen gemeinsam werden erklärt:
1. Die gemeinsame Landesverfassung.
2. Die folgenden, im Zeitpunkte des Inkrafttretens dieses Verfassungsgesetzes bestehenden Landesanstalten:
    a) die Irren-, Siechen- und Findlingsanstalten (Zentralkinderheim), die Anstalten für schwachsinnige Kinder und für Nichtvollsinnige, sowie die Doktor Josef Hyrtlsche Landes-Waisenanstalt in Mödling samt der Volks- und Bürgerschule;
    b) die Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten;
    c) die Landes-Versicherungsanstalten und die Landes-Hypothekenanstalt mit Ausnahme des beiden Landesteilen selbständig zustehenden Kontrollrechtes.
3. Die Landeseisenbahnen.
4. Allgemeine Angelegenheiten, die sich aus der bisherigen Gemeinsamkeit ergeben, wie die Fortzahlung der im Zeitpunkte des Inkrafttretens dieses Verfassungsgesetzes bereits zuerkannten Ruhe- und Versorgungsgenüsse sowie die Tragung der Ruhe- und Versorgungsgenüsse, welche den Angestellten und ihren versorgungsberechtigten Familienmitgliedern im Falle der Pensionierung am 1. Jänner 1921, beziehungsweise des Ablebens am 31. Dezember 1920 zugekommen wären; dann sonstige, aus der bisherigen Gemeinsamkeit herrührende Verbindlichkeiten, soferne nicht zwischen der Gemeinde Wien und Niederösterreich-Land andere Abmachungen getroffen werden.
5. Das bisherige Landesvermögen, einschließlich aller vom Lande oder im Namen des Landes verwalteten Fonds und Stiftungen und die bisherigen Landesschulden, soferne nicht zwischen der Gemeinde Wien und Niederösterreich-Land besondere Abmachungen getroffen werden.
6. Die Feststellung des jährlichen sachlichen und personellen Erfordernisses der gemeinsamen Landesverwaltung.

(2) Außerdem werden bis zum Ende des Schuljahres 1920/21 die Landes-Mittelschulen samt den Konvikten, die Landes-Lehrerseminarien, sowie die Landes-Lehrerakademie als gemeinsam behandelt. In diesem Zeitpunkte werden diese Anstalten nach ihrer territorialen Zugehörigkeit unter die beiden Landesteile aufgeteilt, falls sie nicht vom Bunde übernommen werden.

Artikel 5. (1) Die Kosten für die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten werden durch Beiträge der beiden Landesteile bestritten, wobei für das Kalenderjahr 1921 Niederösterreich-Land 30, Wien 70 vom Hundert des Gesamterfordernisses zuleisten hat. Die Festsetzung der Beiträge für die Zeit nach 1921 erfolgt durch Beschluß des gemeinsamen Landtages bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder jeder Kurie.

(2) Die Beiträge sind je nach Bedarf in Monatsraten im vorhinein zu leisten.

Artikel 6. Der Sitz des Landtages von Niederösterreich und der Verwaltungskommission ist Wien.

Zweites Hauptstück.
Gesetzgebung.

Artikel 7. (1) Die Gesetzgebung in den gemeinsamen Angelegenheiten wird vom Landtage von Niederösterreich ausgeübt.

(2) Der Landtag von Niederösterreich gliedert sich in zwei Kurien. Die eine (Kurie Land) wird gebildet von den Abgeordneten des Landtages von Niederösterreich-Land. Die Abgeordneten der anderen Kurie (Kurie Stadt) werden vom Gemeinderate der Stadt Wien als Landtag nach den Bestimmungen der Verfassung der Bundeshauptstadt Wien gewählt; die Zahl der Abgeordneten dieser Kurie wird im Verhältnis zur Zahl der Abgeordneten der Kurie Land auf Grund der Bürgerzahl jedes der beiden Landesteile nach jeder allgemeinen Volkszählung durch Beschluß des Landtages von Niederösterreich bestimmt.

(3) Bis zur Durchführung der nächsten, nach Inkrafttreten dieses Verfassungsgesetzes stattfindenden Volkszählung bleibt das bisherige Verhältnis zwischen der Anzahl der Abgeordneten von Wien und jener des flachen Landes aufrecht.

Artikel 8. Die Funktionsdauer der Abgeordneten der Kurie Stadt endet mit dem Ablaufe der Mandatsdauer des Gemeinderates, der sie gewählt hat, die der Abgeordneten der Kurie Land mit dem Ablaufe der Mandatsdauer des Landtages von Niederösterreich-Land, dem sie angehören.

Artikel 9. Der Landtag kann nur durch seinen Beschluß vertagt werden. Die Wiedereinberufung erfolgt durch den amtsführenden Präsidenten. Dieser ist verpflichtet, den Landtag sofort einzuberufen, wenn wenigstens die Hälfte der Mitglieder einer Kurie, die Verwaltungskommission oder die Landesregierung eines der beiden Landesteile es verlangen.

Artikel 10. (1) Jeder der beiden Kurien des Landtages wählt in getrennten Wahlgängen aus ihrer Mitte einen Präsidenten und einen zweiten Präsidenten. Die beiden Präsidenten führen monatlich abwechselnd den Vorsitz im Landtage; im Falle ihrer Verhinderung werden sie durch den aus der betreffenden Kurie gewählten zweiten Präsidenten vertreten.

(2) Kein Präsident kann Mitglied der Verwaltungskommission oder der Landesregierung eines der beiden Landesteile sein.

Artikel 11. Die Geschäftsführung des Landtages erfolgt auf Grund eines besonderen gemeinsamen Landesgesetzes und einer im Rahmen dieses Gesetzes vom Landtage zu beschließenden autonomen Geschäftsordnung. Das Gesetz über die Geschäftsordnung kann nur bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder jeder der beiden Kurien mund mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen STimmenbeschlossen oder abgeändert werden.

Artikel 12. Die Mitglieder des Landtages von Niederösterreich erhalten eine Entschädigung, die für die Kurie Land der Landtag von Niederösterreich-Land und für die Kurie Stadt der Wiener Gemeinderat als Landtag bestimmen. Diese Entschädigungen werden von jedem Landesteile aus seinen Mitteln bezahlt.

Artikel 13. (1) Die Sitzungen des Landtages sind öffentlich.

(2) Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen, wenn es vom Präsidenten oder einem Viertel der anwesenden Mitglieder einer der beiden Kurien verlangt und vom Landtag nach Entfernung der Zuhörer beschlossen wird.

Artikel 14. Wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Landtages und seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortung frei.

Artikel 15. Gesetzesvorschläge gelangen an den Landtag entweder als Anträge seiner Mitglieder oder als Vorlagen der Verwaltungskommission.

Artikel 16. (1) Zu einem Beschlusse des Landtages ist, soweit in diesem Gesetze nichts anderes bestimmt ist, die Anwesenheit von mindestens einem Drittel der Mitglieder jeder der beiden Kurien des Landtages und die unbedingte Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich.

(2) Eine Abänderung dieses Verfassungsgesetzes, insbesondere auch hinsichtlich der im Artikel 4, Punkt 5, festgesetzten Gemeinsamkeit des Landesvermögens kann jedoch nur die Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder jeder der beiden Kurien des Landtages und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln aller abgegebenen Stimmen erfolgen.

Artikel 17. (1) Zu einem Landesgesetz ist der Beschluß des Landtages, die Beurkundung durch den amtsführenden Präsidenten, die Gegenzeichnung durch den Landeshauptmann von Niederösterreich-Land und den Bürgermeister der Stadt Wien als Landeshauptmann und die Verlautbarung durch die beiden Landeshauptmänner im Landesgesetzblatte jedes der beiden Landesteile erforderlich.

(2) Die gemeinsamen Landesgesetze und die auf Grund dieser Gesetze erlassenen Verordnungen sind im Landesgesetzblatt für Wien und im Landesgesetzblatt für Niederösterreich-Land zu verlautbaren. Ihre verbindende Kraft beginnt, für beide Landesteile zugleich, wenn nicht anderes bestimmt wird, am Tage nach der Verlautbarung in beiden Landesgesetzblättern.

Artikel 18. (1) Alle Gesetzesbeschlüsse des Landtages sind unmittelbar nach der Beschlußfassung des Landtages vor ihrer Kundmachung von den beiden Landeshauptmännern in einer gemeinsamen Eingabe dem zuständigen Bundesministerium bekanntzugeben.

(2) Wegen Gefährdung von Bundesinteressen kann die Bundesregierung gegen den Gesetzesbeschluß des Landtages binnen acht Wochen von dem Tag, an dem der Gesetzesbeschluß beim zuständigen Bundesministerium eingelangt ist, einen mit Gründen versehenen Einspruch erheben. In diesem Falle darf der Gesetzesbeschluß nur kundgemacht werden, wenn ihn der Landtag bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder wiederholt.

(3) Vor Ablauf der Einspruchsfrist ist die Kundmachung nur zulässig, wenn die Bundesregierung ausdrücklich zustimmt.

(4) Insoweit ein Landesgesetz bei der Vollziehung die Mitwirkung von Bundesbehörden vorsieht,muß zu dieser Mitwirkung die Zustimmung der Bundesregierung eingeholt werden. Vor Erteilung der Zustimmung kann ein solches Landesgesetz nicht kundgemacht werden.

Artikel 19. (1) Jede der beiden Landesregierungen ist berechtigt, gegen einen Gesetzesbeschluß des Landtages binnen vier Wochen vom Tage der Beschlußfassung an gerechnet, wegen Gefährdung der Interessen ihres Landesteiles einen mit Gründen versehenen Einspruch erheben.

(2) In diesem Falle darf der Gesetzesbeschluß nur kundgemacht werden, wenn ihn der Landtag wiederholt.

Artikel 20. (1) Die Mitglieder des Landtages von Niederösterreichkönnen wegen der in Ausübung dieses Berufes geschehenen Abstimmungen niemals wegen der in diesem Berufe gemachten Äußerungen nur vom Landtage verantwortlich gemacht werden (Immunität im Sinne der Artikel 57 und 96 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 1).

(2) Kein Mitglied des Landtages darf wegen einer strafbaren Handlung - den Fall der Ergreifung auf frischer Tat bei Verübung eines Verbrechens ausgenommen - ohne Zustimmung des Landtages verhaftet oder sonst behördlich verfolgt werden.

(3) Im Falle der Ergreifung auf frischer Tat hat die Behörde dem amtsführenden Präsidenten des Landtages sogleich die geschehene Verhaftung bekanntzugeben.

(4) Wenn es der Landtag verlangt, muß die Haft aufgehoben oder die Verfolgung überhaupt bis zum Ablauf der Funktionsdauer des betreffenden Landtagsmitgliedes aufgeschoben werden.

Drittes Hauptstück.
Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten.

Artikel 21. (1) Die Verwaltung der durch diese Verfassung als gemeinsam erklärten Angelegenheiten wird von der Verwaltungskommission besorgt.

(2) Die Verwaltungskommission wird aus fünf Mitgliedern gebildet, die vom Landtage aus seiner Mitte nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden.

(3) Die Stellung eines Mitgliedes der Verwaltungskommission ist eine ehrenamtliche.

(4) Außerdem gehören der Bürgermeister der Bundeshauptstadt Wien und der Landeshauptmann von Niederösterreich-Land der Verwaltungskommission an; sie führen monatlich abwechselnd den Vorsitz; im Falle ihrer Verhinderung können sie sich durch ein anderes Mitglied der Verwaltungskommission vertreten lassen.

(5) Die Mitglieder der Verwaltungskommission leisten dem Vorsitzenden nach ihrer Wahl folgende Angelobung:
    "Ich gelobe, daß ich die Bundesverfassung, die gemeinsame Landesverfassung sowie die Verfassungen der beiden Landesteile und alle Landesgesetze getreulich beobachten und meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen werden."

Artikel 22. (1) Die Kommission beschließt ihre Geschäftsordnung selbst.

(2) Sie ist bei Anwesenheit von vier Mitgliedern einschließlich des Vorsitzenden beschlußfähig und faßt ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit.

(3) Die gemeinsamen Angelegenheiten werden in der Geschäftsordnung der Verwaltungskommission in Gruppen eingeteilt; für jede dieser Gruppen kann ein Mitglied als amtsführender Referent bestellt werden.

Artikel 23. Die Mitglieder der Verwaltungskommission sowie die Mitglieder der beiden Landesregierungen sind berechtigt, an den Beratungen des Landtages und seiner Ausschüsse mit beratender Stimme teilzunehmen. Der Landtag kann ihre Anwesenheit verlangen.

Artikel 24. (1)Der Verwaltungskommission ist das zur Besorgung der gemeinsamen Angelegenheiten bestellte Personal untergeordnet. Alle Angestellten sind an die Weisungen der zuständigen amtsführenden Referenten gebunden und diesen verantwortlich.

(2) In den Wirkungsbereich der Kommission fällt der Abschluß der Dienstverträge mit dem eigenen und zugeteilten Personal, dessen Belohnung und Zuweisung, dann die Ernennung und Beförderung des eigenen Personales sowie dessen Versetzung in den zeitlichen oder bleibenden Ruhestand.

(3) Die bei Beginn der Wirksamkeit dieses Gesetzes im Dienste des Landes Niederösterreich stehenden Angestellten verbleiben, insoferne sie nicht in den Dienst des einen oder anderen Landesteiles übernommen werden, in ihrer rechtlichen Stellung gemeinsame Landesangestellte.

Viertes Hauptstück.
Kontrolle der gemeinsamen Verwaltung.

Artikel 25. Dem Landtage ist sechs Wochen vor Ablauf des Finanzjahres, das mit dem Kalenderjahr zusammenfällt, von der Verwaltungskommission das Erfordernis des Landes Niederösterreich für das kommende Finanzjahr vorzulegen.

Artikel 26. (1) Die ständige Überprüfung der Führung aller im Artikel 4 dieses Verfassungsgesetzes als gemeinsam bezeichneten Angelegenheiten steht Kontrollorganen zu, die von jedem der beiden Landtage bestimmt werden.

(2) Die so bestellten Kontrollorgane haben ihr Amt gemeinsame auszuüben.

(3) Die Kontrollorgane sind berechtigt, von der Verwaltungskommission die Einsendung von Rechnungsbelegen und Behelfen (Geschäftsstücken, Verträgen, usw.) zu verlangen und durch ihre Mitglieder an Ort und Stelle in alle mit der Gebarung im Zusammenhange stehenden Belege Einsicht zu nehmen.

Artikel 27. (1) Der Landtag ist berechtigt, die Mitglieder der Verwaltungskommission über alle Gegenstände der Verwaltung zu befragen und alle einschlägigen Auskünfte zu verlangen, sowie seinen Wünschen über die Verwaltung in Entschließungen Ausdruck zu geben.

(2) Der Landtag kann durch Beschluß Untersuchungsausschüsse einsetzen. Das nähere Verfahren wird durch ein besonderes Gesetz geregelt.

Artikel 28. (1) Der Landtag kann im Sinne des Artikels 142 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 1, gegen ein Mitglied der Verwaltungskommission wegen Gesetzesverletzung die Anklage beim Verfassungsgerichtshofe erheben.

(2) Zu einem Beschlusse, mit dem eine Anklage im Sinne des ersten Absatzes erhoben wird, bedarf es der Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder jeder der beiden Kurien des Landtages.

Fünftes Hauptstück.
Schluß- und Übergangsbestimmungen.

Artikel  29. (1) Die beiden Landesteile haben gegenseitig für ihre im Gebiete des anderen Landesteiles gelegenen Ämter, Anstalten und Unternehmungen und sonstigen Einrichtungen zukommen zu lassen; für Gebäude, die öffentlich-rechtlichen Zwecken eines der beiden Landesteile dienen, dürfen keinerlei Landes- und Gemeindeumlagen erhoben werden.

(2) Die beiden Landesteile werden bei der Verwertung der niederösterreichischen Wasserkräfte das Einvernehmen pflegen.

(3) Der Landtag und die Landesregierung von Niederösterreich-Land sind berechtigt, ihren Sitz in Wien zu nehmen.

(4) Wien kann sowohl als Gemeinde wie auch als Landesteil im Gebiete von Niederösterreich-Land und dieses im Gebiete von Wien Unternehmungen unter denselben Bedingungen betreiben wie der andere Landesteil selbst.

Artikel 30. Hinsichtlich der Errichtung von Zwischenzolllinien und sonstigen Verkehrsbeschränkungen zwischen den beiden Landesteilen haben die Grundsätze des Artikels 4 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 1, beziehungsweise des § 13 des Übergangsgesetzes zur bundesstaatlichen Verfassung vom 1. Oktober 1920, B. G. Bl. Nr. 2, zu gelten.

Artikel 31. Ein selbständiges Land Wien kann durch übereinstimmende Gesetzes des Wiener Gemeinderates und des Landtages von Niederösterreich-Land gebildet werden.

Artikel 32. (1) Der Landtag von Niederösterreich tritt zur ersten Sitzung ohne besondere Einberufung am 4. Jänner 1921, um 11 Uhr vormittags, im Sitzungssaale des niederösterreichischen Landhauses zusammen.

(2) Die Sitzung wird vom bisherigen Landeshauptmann für Österreich unter der Enns, der sofort die kurienweise Wahl der Präsidenten des Landtages einleitet, eröffnet.

(3) Nach der Wahl übernimmt der von der Kurie Wien gewählte Präsident den Vorsitz im Landtage und führt die Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrates durch.

(4) Den Vorsitz in der Verwaltungskommission führt während des ersten Monates der Landeshauptmann von Niederösterreich-Land.

Artikel 33. (1) Diese Gesetz tritt am 1. Jänner 1921 in Kraft.

(2) Gleichzeitig tritt die bisherige Landesordnung des Landes Österreich unter der Enns samt den Nachtragsgesetzen außer Kraft.

Der Landeshauptmann
Sever  m. p.

Der Landesamtsdirektor:
Castell   m. p.

Die vorstehende Landesverfassung war nur ein Jahr lang in Kraft, doch war sie die Nachfolgeverfassung der "Landesordnung des Landes Österreich unter der Enns" von 1861. Sie wurde von dem, noch gemeinsam aufgrund der Landtagswahlordnung vom 20. März 1919 am 14. Mai 1919 gewählten Landtag von Niederösterreich (Zusammensetzung: SPÖ 64, Christsoziale 45, Deutsche Vereinigung 8, Tschechische Sozialisten 3) ausgearbeitet, aber erst nach dem Erlass der Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920  verabschiedet.

Da diese das gemeinsame Land Niederösterreich mit zwei stark verselbständigten Landesteilen vorsah, hat sich der 1919 gewählte Landtag von Niederösterreich bald in zwei Teile abgeteilt, wobei die, aus dem Landesgebiet ohne Wien gewählten 52 Abgeordneten den Landtag des Landesteils Niederösterreich-Land (Zusammensetzung: Christsoziale 26, SPÖ 20, Sonstige 6) bildete, der bereits am 30. November 1920 die Landesverfassung für Niederösterreich-Land (ab 1922 Niederösterreich) verabschiedete.

Die Trennung des gemeinsamen Landes in zwei vollberechtigte Länder der Republik Österreich erfolgte bereits zum 1. Januar 1922 durch das "Verfassungsgesetz, womit ein selbständiges Land Wien gebildet wird". Damit endete die Teilung des früheren Kronlandes Österreich unter der Enns, in dem 1919 immerhin mehr als die Hälfte der Einwohner der Republik Österreich (3.3 Mio.) wohnten in zwei selbstständige Länder. Das gemeinsame Land blieb somit nur eine kurze Episode in der Geschichte. Hauptgrund der Trennung war hauptsächlich, wenn auch oftmals bestritten, die politische Gegensätzlichkeit von Stadt und Land und auch heute noch ist Wien mehrheitlich sozialdemokratisch und Niederösterreich hauptsächlich konservativ.
 


Quellen: Landesgesetzblatt für Niederösterreich-Land, Jahrgang 1920 Nr. 86
Landesgesetzblatt für Wien, Jahrgang 1920 Nr. 9
Die Verfassung von Niederösterreich-Land, Wien 1921

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